Ich habe gestern eine Szene auf einer Wiener Straße erlebt, die mich seither verfolgt. Es war wie die post-apokalyptische Version der Straßenblockaden der Letzten Generation - ich habe sie aufgeschrieben, um sie irgendwie zu verdauen. Ein Versuch.
Eine junge Frau mit recht dunkler Hautfarbe stürzt vor mir unter Tränen auf die Straße und schreit das bremsende Auto an: „Überfahr’ mich! Ich kann so nicht mehr leben, diesen Rassismus überall, ich halte ihn nicht mehr aus.“ Der Lenker, weiße Hautfarbe, ist sichtlich überfordert von der Situation, er steigt halb aus seinem Fahrzeug aus, über seinen Blick huscht eine Mischung aus Entsetzen und Mitgefühl. Doch sein Körper verkrampft ungesund und sein Mund zischt Laute, die zwischen „Schleich di’“ und „Fotze“ varieren. Männliche Hilflosigkeit.
Der Radfahrer hinter mir, von dem ich vom Hipster-Aussehen geschlossen mehr erwartet hätte, geht nun auch auf die heulende Frau zu und versucht sie zu beruhigen. Doch seine Worte sind bloß: „Sie können da nicht auf der Straße sein, da wollen die Autos fahren“ – als ob dies eine unumgängliche Überzeugungskraft hätte, egal wie psychotisch der Anfall gerade ist. Da die Frau, wenig überraschend, nicht reagiert, wiederholt er nur repetitiv seinen Satz und schließt damit, dass man nichts anderes machen kann als die Polizei zu rufen. Dann droht er mehrmals mit der Polizei und versichert, dass die helfen kann.
Vorhin hatte ich versucht, die verzweifelte Frau möglichst nett anzusprechen, um sie irgendwie zu beruhigen. Doch sie wiederholte nur ihren Todeswunsch und dass sie nicht mit mir sprechen wolle. Da die beiden Männer weiter schimpften / mit Polizeianrufen halfen, verlagerte ich meine Aufmerksamkeit auf die beiden und fragte diese, ob das wirklich ihr bester Einfall wäre im Umgang mit einer Person, die offensichtlich gerade einen psychotischen Anfall aufgrund des grassierenden Rassismus in diesem Land erfuhr. Ich meinte vorhin zu erkennen, dass sie aus einem Magistrat auf die Straße gelaufen war, welches über Anerkennungs- und Weiterbildungsmaßnahmen entschied. Die beiden Männer fühlten sich auf den Schlipps getreten, wiederholten sich jedoch schleifenartig nur in ihren jeweiligen Empathieblockaden. Sie hatten sich nicht ausgesucht hier zu sein und was gebe es einer das Recht sich hier gerade vor ihnen umzubringen.
Irgendwann hatte der Autofahrer es irgendwie geschafft, an der Frau vorbei zu kurven. Doch sie lief entschieden vor das nächste, größere Auto und wiederholte schreiend ihre Forderung, überfahren zu werden. Sie könne nicht mehr.
Der Fahrer des Kleintransporters, sichtlich auch jemand mit migrantischem Hintergrund – und scheinbar unter Lieferstress – , stieg aus und versuchte die Frau zuerst sanft an den Schultern von der Straße zu lenken. Doch als sie sich wehrte und nur ihren Selbstmordwunsch wiederholte, wurde auch er ungehalten, beschimpfte sie und brauste in seinem Auto davon.
Zum Glück schaltete sich dann auch irgendwann mal eine Person mit in die Szene ein, die emotional kein kompletter Analphabet war. Natürlich war die Person weiblich. Gemeinsam schafften wir beide es, die Verzweifelte davon zu überzeugen, dass sie jetzt hier niemand überfahren werde. Sie verließ weiter unter Tränen die Straße. Ich sagte ihr recht bald, dass die Polizei gerufen wurde – ob sie das denn wolle. Trotz des hierzulande unumstrittenen Rufs der lokalen Polizei als Vorfront des antirassistischen Widerstands wollte die Frau das nicht und lief panisch davon. Wir kamen ihr nicht nach. Wollten es wahrscheinlich auch nicht.
Der Stau und das Hupkonzert in der engen Straße im ersten Wiener Gemeindebezirk, welches wir hinterließen, löste sich langsam auf als ob nichts gewesen wäre. Alle diesen Männern, alleine hinterm Steuer von riesigen Maschinen, schien nichts wichtiger zu sein, als einfach nur weiter zu kommen, weiter ihrem scheiß Alltag hinterher zu hetzen. Und bitte möglichst nicht daran erinnert zu werden, dass dieser frustrierend ist. Wenn mich jemand mitfühlen macht, muss ich auch selber fühlen. Dies wird scheinbar als Angriff gewertet, unter den Scheißbedingungen des Lebens dieser Scheißmänner, scheinbar. Deswegen lieber, wie schon Jesus gesagt hat: Noli me tangere.
In der Luft liegt die Erinnerung an die Straßenblockaden der Letzten Generation, die sich letztes Jahr in Österreich aufgelöst hat, weil sie die Hoffnung auf die Transformation der Gesellschaft aufgegeben hat. Hier und heute erlebten wir, so erschien es mir, die dunkle, post-apokalyptische Version einer solchen Blockade. Und alle waren froh, dass das Leben so weiter geht wie bisher. Und die Abgase sich weiter in der Innenstadt stauen können. Fuck Patriarchy.