ein leicht fiktionalisierter und fokussierter Ausschnitt aus meinem Tagebuch.
1ter Mai 2016, Wien
Gestern haben mir die Wildschweine des Lainzer Tiergartens gelehrt, dass Angst gefährlich ist. Seit der Wahl letzten Sonntag habe ich große, paranoide Angst vor dem Faschistisch-Werden Österreichs und Europas. Diese hat mich in den Wald getrieben, mein stets letztes und liebstes Refugium, um Heilung zu suchen.
Langsam lösten sich dort die in mir fest gefahrenen Motive und Strukturen, in die ich aus Angst floh - ich musste mit einem Prozess beginnen, um nicht in meiner Rolle zu erstarren. Die Angst macht mich hart und abgeschlossen - genau zu dem, vor dem ich mich fürchte in der FPÖ. Hier muss ich viel lernen, um darüber hinweg zu kommen und nicht selbst ein Teil des Faschistisch-Werdens zu sein.
Liebe ist die Antwort. Liebe, die vielleicht auf nationaler Ebene zur Zeit keine Konjunktur feiern kann, die aber im Lokalen immer stärker ist. Und so wusste ich, als ich vom Hundsturm in Dämmerung durch den Wald abstieg und von wegnahen Wildschweinhorden mit Jungen mehrmals aggressiv angegrunzt wurde, dass hier Angst nichts nützt. In Angst versteife ich mich in jener Position, die die Opposition zur/m Anderen ist und uns in Kampf zueinander bringt.
Bei den Tieren wissen wir es: man muss ihnen in Liebe seine Absichten offenlegen und sie werden dies lesen können. Ich bleibe am Weg, du bei deinen Jungen. Keine Angst, ich habe auch keine. Wir kommen miteinander aus.
Wollen wir uns auf eine ökologische Gesellschaft hinzubewegen, sollten wir genauso auf die FPÖler zugehen: habe keine Angst, ich bin nicht die / der für die du mich hältst. Alles nicht so schlimm.
Lektion hieraus: vor allem individuell, dann erst politisch: halte dich zumindest selbst heraus aus dieser Kriegsmaschine, die Österreich zu werden droht! Ich muss meine durch die Wahl entzündete Angst vor den Straßen und Männern Wiens überwinden. Ich muss mich wieder wohl fühlen und ihnen keine Angst zeigen, um nicht einer von ihnen zu werden.
2ter Mai 2016, Wien
Wie gut, dass es Clubs gibt. Ihre Atmosphäre, Tanzen im Laserlicht und anonymes Anlächeln unter gedacht Gleichen beruhigen mich ein bisschen, vertreiben sogar den Zweifel, ob die Clubmaschine nicht ein zentraler Teil der Dystopie ist, in der wir unsere Mündigkeit und subversive Kraft effektlos verschwitzen. Ist mir egal, ich fühle mich zumindest wieder offener und wohler nachdem ich durchgetanzt habe.
Die Stimmung im Land macht mir weiter Angst. Hofer plakatiert mit 'Die Stimme der Vernunft', van der Bellen irgendeinen Kram vom 'Heimat' und 'Kraft'. So weit rechts ist der Diskurs schon abgedriftet. Von den Mainstreammedien will ich gar nicht erst schreiben.
Muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, in einem totalitären Staat zu leben? Wieviel muss ich von meinem Lebensstil verändern, um meine Haltung (Ethos) zu bewahren?
3ter Mai 2016, Wien
Ich erkenne immer mehr, dass ich bei meinen Lebensvorstellungen und der ihnen konträr verlaufenden politischen Großwetterlage wohl keinen Platz in der Gesellschaft finden werde und wohl eher als 'Aussteiger' in den 'Untergrund' muss: ein finanziell armes Leben, abseits der Komforts der Mainstreamwelt. Auf eine Art bereitet das mir weiterhin Angst, auf eine andere Art steckt hierin eine ungeheure Kraft und Möglichkeit: neue Lebensformen! Hin zu mehr kommunalen Organisationsformen und endlich Schluss mit dem Trotzdem-Irgendwie-Verkrusten in alter Bürgerlichkeit!
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Prinzipiell bin ich zur Zeit sehr verwirrt und kann mein Denken kaum geordnet halten. Dies sollte ich mehr akzeptieren und für meine Unversehrtheit mit diesem Umstand lächelnd mitfließen.
4ter Mai 2016, Flughafen
Ich richte mich mehr und mehr im Gefühl ein, tatsächlich in der Dystopie zu leben. Hier am Flughafen lässt sich dem besonders leicht nachfühlen.
5ter Mai, Athen
Mein Freund und Mit-mir-Reisender X. warnt mich davor, zu pessimistisch zu werden und die Hoffnung zu verlieren. Dies sei schlecht für die persönliche Entwicklung, den Charakter. Der Lauf der Welt ist beängstigend, no doubt, aber no future gibt es auch schon seit den 70ern und birgt die Gefahr lähmend, verhärtend und verbitternd zu wirken.
Es gibt einen Ort in mir, die Pille MDMA hat ihn mir gewiesen, der Glücklichkeit und Verbundenheit ist - der zur Abwechslung der linken Gehirnhälfte den Vortritt lässt und das parasympathische Nervensystem entwickelt. Diesen Ort muss ich domestizieren - ich darf ihn nicht vergessen. Das Zu-viel-über-die-Welt-denken birgt zu sehr die Gefahr der Paranoia ('Alles Erkennen ist paranoid' - Lacan) und außerdem ist eine Trennung zwischen meiner (guten) persönlichen, sozialen Stellung und der Lage der Welt hilfreich, um gesund und fit zu bleiben.
Die Welt ist zu dicht besiedelt, als dass sie gut oder schlecht sein könnte - alles ist so eng verwoben und alles wabbert im Dreck, den man lieben lernen muss.
6ter Mai, Nauplion
Die Dystopie ist wohl einfach die Begleiterscheinung des logischen Zusammenfalls unserer industriellen Kultur - es sind epiphänomenale Klammereien, die drohen, den Zerfall härter und zu einem katastrophalen Kollaps werden zu lassen. Wir werden uns in eine Art neues Mittelalter (das wir zusehend als historische Fiktion erkennen) bewegen und unsere Machstrukturen werden sich verwaschen (dass sie sich heute zu verhärten scheinen, ist nur eine Etappe davon).
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Hier in Griechenland sieht man recht eindrücklich, wie weit der Kollaps und die ihm verbundene Dystopie schon fortgeschritten sind. Im Best Western essen wir ein Frühstück, dass optisch wie Luxus erscheint, von Qualität und Geschmack aber vielmehr der asbestverseuchten Wandpappe gleicht. Die SUVs zischen wie hermetisch abgeriegelte Panzer durch Land und Stadt, während sich lokal - bei niedrigerer Geschwindigkeit - Verfall, Armut und oft auch Obdachlosigkeit häuft. Die Straßenschilder sind beinahe alle mit Anarchie oder Goldene Morgenröte-Tags übersprayt, die vom Menschen verbaute Landschaft reicht sogar bis in die Bergspitzen, an denen sich Windräder und Waldbrandschneißen - um die letzten Wälder zu retten - sammeln. Immobilienblasen aus billigem Stahlbeton schießen an den unmöglichsten Plätzen aus dem ehemals schönem Boden, oftmals werden sie gar nicht fertig gebaut - manche sind noch von der gegenwärtigen Kapitalakkumulationsblase gefüllt, andere schon wieder leer und verfallen - ihre älteren, historischen Kollegen unter den Bauten überholend. An den Häfen ankern die großen, monochromen Yachten der Ausbeuter_innen, ein öffentliches Linienschiff liegt leck und schief in Piraeus, die Behörden haben sich immerhin noch die Mühe gemacht, einen Ölteppichzaun herum zu spannen.
Auf eine Weise ist das schön - zumindest sollte es unsere Aufgabe sein, eine dem entsprechende Ästhetik zu entwickeln ('Ethik und Ästhetik sind eins' - Wittgenstein). Wir sollten den Niedergang affirmieren, um nicht dem Untergang geweiht zu sein.
Die Taktik Hollywoods, den unseren Niedergang stets als apokalyptisch-katastrophalen Untergang zu erzählen, ist gefährlich, da sie direkt in dystopische Verhärtung hineinführt, die die Apkalypse bringt: so klammern wir uns an den Status Quo, um den Niedergang noch ein bisschen aufzuhalten, stauen ihn dadurch auf, so dass er zum tatsächlich folgenreichen Untergang wird.
8ter Mai, Astros
Mein Freund X. erzählte mir heute von seiner Besetzerzeit im Kreuzberg der 80er Jahre. Als beinahe die gesamte O-Straße besetzt war und der Senat immer wieder den Bezirk offiziell aufgeben musste. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten damals, sagte er, man sammelte sich Ecke Adalbert / Oranien, trank und wartete, bis die Polizei vorbeikam. Dann flogen die ersten Steine - ganze Steinmunitionslager gab es allzeit bereit auf den Dächern. Ziel war es, "die Polizei dauerhaft aus Kreuzberg herauszubekommen" und regelmäßig brannten Gebäude, Autos und Supermärkte. Bei einem der letzteren wurden sogar der anrückenden Feuerwehr die Schläuche zerhackt, um das Löschmanöver zu verhindern.
Heute ist dies alles verschwunden. Die O-Straße gehört teils der Mafia, teils einem Kunstmäzen, der alle Kulturschaffenden vertreibt. Fro-Yo-Stand reiht sich an Fro-Yo-Stand und wechselt sich mit Fastfoodläden für Touris ab. Seit Jahren habe ich mit X. eine Wette am Laufen, wann der erste Starbucks aufmachen wird. Beim diesjährigen 1ten Mai-Aufstand waren 7.500 Polizist_innen alleine in Kreuzberg im Einsatz und versucht man heute ein Haus zu besetzen, ist man innerhalb von 48h verurteilt - so klar ist das Recht auf Seiten der Besitzer_innen, die die Immobilien lieber zunageln und steuerlich abschreiben, als bewohnen lassen.
"Wenn da was nicht mit dem System stimmt."
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Hier fahren wir durch die griechischen Touriorte und er fragt sich, wie das alles funktionieren soll: Restaurant neben Restaurant, Souvenirladen neben Souvenirladen, Retorte neben Retorte - und für einen Bäcker muss man im gesamten Ort suchen! "Wozu brauchen wir Brot, wenn wir billige Stöckelschuhe made in China haben?!"
"Alles Blasen", antworte ich "Blasen, die den wirtschaftlichen Niedergang aufzuhalten suchen aber dabei umso schlimmere Untergänge verursachen."
Zumindest sind die Leute hier alle sehr nett und freundlich - anders als in z.B. Chile, wo die Wirtschaft rast, aber die Menschen ausgequetscht werden ... und das sah man ihren Gesichtern an. Hier hingegen ist alles entspannt. "Wenn es wirtschaftlich nicht so gut geht, besinnen sich die Menschen auf Werte wie Zusammenleben und Umsicht." Wir schlafen hier auf einem Campingplatz, auf dem ganz viele Dauercamper wohnen - Einfamilienhaus mit Garten mini, und das Ganze viel ökologischer, weil kleiner und kommunaler, weil die Hecken und Gartenzäune fehlen. Und dann rauscht beruhigend das Meer.
"Wenn die Wirtschaft funktioniert, dann sind die Leute unfreundlicher."
9ter Mai, Leonido
Wir fahren die gewundenen Straßen durch den Peleponnes - über Hügel und Täler, bewaldete Hochebenen und gewellte Küstenstreifen. Immer wieder passieren wir Ziegenherden, müssen abbremsen.
Bei einer liegt eines flach und schlafend mitten auf der Straße. Ein großer Bock eilt hin und stupst es mit der Schnauze an. Es erhebt sich und - näher gerollt - erkennen wir, dass es ein kleiner Wachhund ist, der uns verdutzt im Vorbeifahren ansieht.
"Ich sach ja nisch, aber ditt is eigentlich dein Job, auf die Ziegen aufzupassen und nisch umjekehrt - sach ich nur mal so..."
10ter Mai, Gythio
"Oh - eine tolle Schlucht, und wow!, eine coole Bucht, azurblau - und dahinter, was für eine Bergkette, der Hammer! Und die Hafenstadt da in der Ferne erst, baaaaam!"
"Aber die hast du doch noch nichtmal gesehen."
"Wird aber sicher super sein und he - die Welt ist zu kaputt um kritisch zu sein."
X. verstören die pakistanischen, marrokanischen, syrischen, usw. Gastarbeiter, die hier mit trauriger Miene die Orangenfelder abernten, durch die wir unser bleifreies Benzin jagen. Ich bin jünger und deswegen abgebrühter.
11ter Mai, Spoula
Die Häuser, die hier in die Landschaft geklotzt werden, dass sind unsere Häuser. Ganze Täler werden kantig gepflastert, so dass wir sie kaufen können - dass wir, Briten, Niederländer_innen, Schweizer_innen, Österreicher_innen, Deutsche uns erholen können von der aussaugenden Maschine, die wiederum die südlichen Länder aussaugt. Und es ist auch gar nicht notwendig, dass wir alle diese schier unzählbaren leeren Häuser mit unserem Geld kaufen - so wie es hier in Sachen Leerstand aussieht, sind die meisten der neuen Klötze wohl eh als Spekulationsobjekte und Geldanlagen konzipiert - und wenn jemand von uns*, den neuen alten Kolonialherren und -frauen, dann auch noch einzieht, umso besser!
Die Fluchtbewegung ist perfekt inkorporiert.
*ob dieses 'uns' tatsächlich auch noch meine Generation beinhaltet, hoffe ich bezweifeln zu können. Ich zähle darauf, dass wir den Niedergang zu Genüge affirmieren lernen um die Dystopie wieder zu verringern. Realistisch ist das nicht. ("Realismus ist die herrschende Ideologie des Systemerhalts - 'es gibt keine Alternativen'" - Marcus Steinweg)
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Egal. Die Sonne tut mir gut hier, die Leute sind weiter nett, nett und links. Wo Sicherheiten wie Sozialstaat etc. bereits eingebrochen sind, klammern und krampfen die Menschen nicht mehr, sie sind entspannt und sehen, dass es eh auch so irgendwie geht. (Ein "Dritte Welt" Phänomen.)
Ich komme runter von meinen Ängsten, habe Kraft gesammelt für meine Heimat den Norden, wo alle immer weiter nach rechts gehen, weil wir unseren Besitzstand bewahren wollen. Und bewahren ist vermehren. Oben wird alles immer verhärmter und verbitterter - da muss man sich dann öfters eine Reise in den Süden leisten - sind ja billig, die Flüge!