Thanks to
Bernd Bösel I got to know Derrick de Kerckhove and read his formidable
Schriftgeburten. Aside from the fact, that Peter Sloterdijk mentions him here and there, it is really stunning, almost extraordinary, how unknown the Canadian media-philosopher is (his English as well as French wikipedia-entry is a stump, a German one doesn't even exist). For de Kerckhove's psychotechnological take on Western culture is a grand undertaking and helps me (and I think will help others) in putting many puzzle-pieces of post-modern thought together to a more comprehensive picture of the whole (philosophy's most potent movement). I feel this book gave me a much more profound base for things I wanted to say all along, but wasn't really - or very speculatively - able to put together under one coherent line of thought. My brain is still being reprogrammed by the book and I would like to share my insights with you.
Schriftgeburten (whose German title I find much more apt than the original
La civilisation vidéo-chrétienne) is concerned with the question, what actually
makes the occidental culture. We know what it
is (strong object-subject division, huge urge for definition, logo-centric world view and the likes ), but how did it actually become that? Why is this oftently debated, more and more broadly critisized occidental culture so outstanding? (in the sense, that it was able to become the dominant hegemonial power and cultural influence of the world)
Derrick de Kerckhove - who was scholar, co-worker and successor of McLuhan by the way - tries to answer this in analysing the impact and novelties of the Greek alphabet. The Greek alphabet's radical invention is to have symbols for vowels and consonants - all earlier alphabets, like Phoneician from which the Greek one was derived, only had symbols for the consonants - making it dependent of the text's reader to add the right vowels and therefore generating meaning. Because of this, the consonant-alphabets could never liberate themselves from their in-bedding in context as the Greek managed to. Derrick de Kerckhove goes as far as to claim, that the notion of a formal logical system could only have come into existence because of this. "The Greek alphabet is the first Computer program" he claims and goes on to draw a line from the Greek alphabet to "New Media"-technology, passing ancient drama and theatre, Gutenberg's letterpress, the telegraph, radio, video and television along the way. In doing this, he is not doing some cursory cultural history, but - quoting a lot of at-the-time contemporary neuroscience - examining the direct effects the alphabet has on our brain and, in doing so, asserting that many later technologies and common practises of occidental culture were already pre-figured by what this new, complete alphabet did - and still does - to us.
Below, you can find a much broader German review I did on de Kerckhove's extremely interesting
Schriftgeburten.
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Einleitung
Derrick de Kerckhove beschäftigt
sich in seinem Buch Schriftgeburten (dessen
Übersetzungstitel mir weitaus treffender erscheint als der sehr
sperrige, originale La civilisation vidéo-chrétienne)
mit der Frage, was das Abendland eigentlich ausmacht.
Abendlandkritik, -lobpreisung oder -pauschalzuschreibungen sind ja in
aller Munde, allerdings scheint mir relativ wenig Einigkeit darüber
zu bestehen, worin oder wodurch dieses Abendland denn genau besteht.
Natürlich - den Ausgangspunkt des Abendlandes setzt man mit großer
Übereinstimmung in den griechischen Stadtstaatenkulturen des 6. bis
3. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung an, wonach sie sich über
die römische Imperiumskultur mit dem abrahamischen Monotheismus
verband. Wir sehen unsere Kultur als die des "Abendlandes"
an, wissen, dass diese in vormals unbekannten Maße mit dem Beginn
der Neuzeit zur weltbeherrschenden Kultur avancierte
und stufen dies spätestens seit der Post-Moderne als zusehends
kritisch ein. Als wesentliche Charakteristika oder Eigenheiten des
abendländischen Denkens werden zumeist eine starke
Subjekt-Objekt-Trennung und eine damit verbundene Trennung von der
Umwelt, ein ungeheures Bedürfnis nach Definition und
logisch-dialektischer Analyse sowie eine stark logozentristische
Weltanschauung genannt. Dessen sind wir uns wohl soweit einig.
Warum wir Abendländer diese uns
recht einzigartigen, die Machtausbreitung über die Welt in neuen
Dimensionen ermöglichenden Eigenheiten entwickelt haben, liegt aber
weitgehend im Dunklen. Derrick de Kerckhove versucht sich dieser
Frage über das Untersuchungsfeld der "Psychotechnologien"
zu nähern. Also jenem technikphilosophischen Gedankengut, das sich
den modulierenden Auswirkungen von Technologien auf den menschlichen
Weltzugang widmet.
De
Kerckhove sieht als die wesentliche, das Abendland hervorbringende
Psychomodulation jene an, die das griechische Alphabet mit sich
brachte. Wie allgemein bekannt, ging das griechische Alphabet aus dem
Phönizischen hervor. Dieses besaß allerdings - wie alle anderen
semitischen Sprachen - bloß Zeichen für die Konsonanten. Solche
konsonantischen Alphabete benötigten stets einen Lesenden, der durch
die verbale Intonation der Wörter die jeweils richtigen Vokale zu
den vorgegebenen Konsonanten hinzufügen muss. Die Bedeutung wird
also erst in Symbiose mit einem Interpreten hergestellt, wodurch die
semitischen Sprachen stets von und in ihrem Kontext abhängig und
eingebettet blieben.
Das phonetische Alphabet des
(antiken) Griechischen sprengt diesen Zusammenhalt in vormals
ungesehener Radikalität. Durch die Hinzufügung von Zeichen für die
Vokale konnte sich das griechische Alphabet, so de Kerckhove, von
seinem Umweltkontext restlos lösen. Ein Text konnte ohne
Abhängigkeit von der Vorbildung des Lesenden stets richtig
ausgesprochen werden - die Intonation, das Vorlesen des Textes wurde
vom Primären ins Sekundäre abgestuft. Das Denken und Lesen verschob
sich vom lauten Aussprechen zum stummen Sinnieren über die
kompletten Codes des phonetischen Alphabets. Dies markiert den
Übergang von oraler zu visueller Kultur.
Da
dieses Novum es dem griechischen Alphabet ermöglicht,
Bedeutungszusammenhänge unabhängig vom jeweiligen Rezipienten und
Kontext herzustellen, nennt de Kerckhove das griechische Alphabet
plakativ das "erste Computerprogramm." Die Logikzyklen
einer digitalen Rechenoperation sollen ihren Ausgang in jenem
geschlossenen, unabhängigen Referentialitätsystem des griechischen
Vokalalphabets genommen haben. In einer tour de force durch
das knapp zweihundert Seiten starke Buch zeichnet der kanadische
Philosoph, Mitarbeiter und später Nachfolger McLuhans auf der
University of Toronto, eine hastige wie aufregende Linie vom Alphabet
zum Computer, als dessen Wegpunkte er den Buchdruck, die
Elektrizität, das Morsesystem, das Radio und das Fernsehen ausweist.
Kognitive
Auswirkungen des Alphabets
In seinem ersten Kapitel setzt
sich der Kanadier grundlegend mit den titelgebenden kognitiven
Auswirkungen des Alphabets auseinander.
"Wir
sind in der Sprache gewesen, vor allem in der Schrift, wie Fische im
Wasser. Die Fische aber kennen das Wasser nicht." (21)
So wunderschön bildhaft beginnt de Kerckhove sein Buch. Daran im
Anschluss wird der Gedanke erläutert, dass die "Erfindung"
der Sprache wohl wichtiger war, als jene des Rades. Hierbei ist nicht
die eigentliche Entstehung der Sprache gemeint, sondern das Beginnen
der Reflexion über die Sprache und der Einsicht, dass sie etwas
Künstliches ist - zu
dieser Erkenntnis war eine Loslösung von der Sprache erforderlich,
die - so de Kerckhove in Nachfolge des Anthropologen Edward Hall -
nur mittels der Schrift möglich wurde. Als Nebenprodukt einer
solchen Distanzierung von der Sprache zählt allerdings dann auch
"sie zum Werkzeug zu machen und sich ihrer in einer Art zu
bedienen, die nicht mehr ausschließlich eine unmittelbare
Einbeziehung zur Folge hat wie in der Unterhaltung." (21) Mit
zunehmender Distanz- oder Instrumentalisierung wächst die
Anwendbarkeit sowie die Generierung gewisser kognitiver Strukturen.
Neben der eher bekannten These,
dass Schrift kulturelle Evolution beschleunigt, möchte de Kerckhoves
fundamentalerer Ansatz zeigen, "dass Schrift grundlegend die Art
und Weise des Denken verändert" (22) - also eine grundlegende -
vielleicht die grundlegendste - Psychotechnologie unserer Kultur ist.
Das griechische Alphabet soll
eine Beschleunigung, Erweiterung und Verbreitung erreicht haben, die
das Maß aller anderen Zeichensysteme bei Weiten überstieg und somit
wesentliche Parameter der abendländischen Kultur kreierte.
Um dies zu zeigen, weißt de
Kerckhove fünf kognitive Tendenzen der griechischen Schrift aus,
wobei mir folgende - um nicht zu sehr in die Länge auszuufern - am
Wesentlichsten erscheinen:
- da in phonemischen Schriften
die kleinsten Grundbausteine bedeutungstragend sind (entgegen der
z.B. Silbenschrift), trainieren diese einen Hang zur systematischen
Auflösung in kleinste Teile (Atomisierung) an.
- da sich Bedeutung aus
Kombinationsvariationen dieser Grundbausteine ergibt, neigen deren
Anwender zum Denken in "logischen Verbindungen sowie Beziehungen
von Ursache und Wirkung" (28). Dies befördert eine Emanzipation
von sozialen Kontexten hin zu textinternen, logischen
Argumentationen.
- Durch diese Verlagerung von
sozialen Kontext zu logischer Stringenz wird der Schwerpunkt der
Kommunikation "vom Oralen zum Geschriebenen, das heißt vom
Zwischenmenschlichen zur Stille der privaten Gedanken" (29)
verlagert.
Diese umrissenen Parameter
trainierten kognitiv, in "grundlegende[n], aber völlig
unbewusste[n] Struktur[en]" einen Hang zur linearen Analyse an,
also "auch die sichtbare Welt in ihre kleinsten und feinsten
Gliederungen und Proportionen zu zerlegen, gerade so, wie es das
alphabetische Lesen 'vorschreibt'." (29)
Dieser sich in unserer
Kulturgeschichte ausweitende Hang zur Abstraktion bewirkte an diesem
Punkt eine Entsinnlichung der Sprache: Da das Hauptaugenmerk
zunehmend auf logische Stringenz gelenkt wurde, wurden
(rhetorischere) Faktoren wie Intonation, Gestik, Melodie und
dergleichen sekundär. Die Sinne wurden gegen den Sinn getauscht:
diverse sinnliche Bestandteile, die in der oralen Kommunikation
zentral sind, werden also, durch die von der Schrift beförderten
Informationsgesellschaft, zugunsten von abstrakten Gebilden
vernachlässigt.
Durch
diese vollständige Trennung vom sensorischen Gehalt der Sprache -
die in die Nähe von Derridas différance gebracht
wird - ist es dem Anwender erst möglich, sich von der
Unmittelbarkeit der sinnlichen Eindrücke zu Emanzipieren und so
Kontrolle über das Selbst zu übernehmen. Das abendländische
Subjekt, seine in diesem Grade kulturgeschichtlich recht einzigartige
individuelle Autonomie, nehmen von hier aus ihren Ausgangspunkt, so
de Kerckhove.
Da das griechische Alphabet das
erste war, das - wie in der Einleitung dargelegt - unabhängig vom
Interpreten eine vollständige Trennung vom Signifikat herstellte,
wurde es möglich "am Sinn selbst zu arbeiten, statt ihn nur zu
repräsentieren." Dadurch konnte das abendländische Subjekt zum
"ewigen Erfinder des täglichen Lebens werden." (34)
Des Weiteren argumentiert der
kanadische Medienphilosoph, unter Verwendung eines Begriffsschemas
des Neurobiologen Jean-Pierre Changeux, dass das griechische Alphabet
das Denken als "Zirkulation von Konzepten" befördert wie
kein anderes. Mit Konzepten sind hierbei geistige Objekte gemeint,
die kaum sinnliche Aktivitäten auslösen, sondern sich assoziativ
mit anderen Konzepten verbinden. Das so auf Konzepte ausgerichtete
abendländische Denken kann sich dadurch "gemäß einer formalen
Logik [...] organisieren, die relativ unabhängig von
Erfahrungswerten ist." (37)
"Die Geburt des
Grammatik und der Logik in der Antike ergibt sich zwingend aus der
technologischen Verfasstheit des Alphabets, durch die die Sprache
nicht länger ein Spiel von Bedeutungen war, die aufgenommen und
interpretiert werden konnten. Sprache wurde vielmehr ein Kode, dazu
bestimmt, Aussagen korrekt auszudrücken." (41)
Diese
sehr tiefgreifenden Erkenntnisse werden recht hastig am Beispiel von
Platon verdeutlicht. So wird argumentiert, dass Platons (bzw.
Sokrates') Suche nach Definition, die damit eng verbundene
platonische Idee und das Wettern gegen die bloße Meinung erst
möglich ist, wenn der Sinn von Wörtern in einer logischen Ordnung
autonom gegenüber dem Sinnlichen bestehen kann. Solange diese
Trennung, oder Entstehung einer
"Zweiten Welt", wie es Hegel genannt hat,
nicht komplett war,
wäre Platons Vorgehensweise gar nicht denkbar gewesen.
Deswegen wird auch Platons
romantisch anmutende Glorifizierung der "warme[n] Sinnlichkeit
der oralen Sprache" im Phaidros als recht kindisch abgetan, da
er diese nur verteidigen kann, "da er bereits völlig besessen
oder, noch besser ausgedrückt, programmiert ist vom Dämon der
Schrift" (40)
Das
Alphabet und die Organisation der Wahrnehmung
Im zweiten Kapitel versucht de
Kerckhove diese vorgebrachten Thesen mit Ergebnissen der Neurobio-
und -physiologie zu untermauern.
Dies hat etwas sehr
erfrischendes, da viele Vertreter des Metiers der Philosophie die
Beachtung der Ergebnisse dieser recht neuen Wissenschaftszweige mit
vorschnell vorgebrachten Reduktionismus-Vorwürfen ablehnen. Auch
wenn diese Vorwürfe bei manchen Vertretern dieses
Wissenschaftszweiges mit Sicherheit ins Schwarze treffen, scheint die
leider zu oft vorgebrachte Pauschalablehnung dieses gesamten
Wissensfelds eher eine Angst vor der Entdeckung eigener begrifflicher
und konzeptueller Mängel aufzudecken, als eine wirklich fundierte
oder berechtigte Kritik darzustellen. Philosophen sollten eigentlich
in der Lage sein, Konzepte aus anderen Wissensbereichen zu
integrieren und durch ihre fachspezielle Weitsichtigkeit zu
kontextualisieren und erweitern. Eine abstoßende Kurzschlussreaktion
zeigt hingegen eher, dass dessen Vertreter noch in veralteten,
vor-wissenschaftlichen Begriffen und Denkschulen stecken, die mit den
Ergebnissen unserer Welt nicht mehr zurecht kommen. Gilles Deleuze
hat sein Leben lang - in Bergsons Gefolge - konstatiert, dass der
modernen Welt eine Metaphysik der modernen Naturwissenschaften
fehlt,
die Deleuze - meiner Meinung nach mit Erfolg - versuchte
auszuarbeiten. Dass de Kerckhove nicht von dieser in der Philosophie
weit verbreiteten, abstoßenden Angst affiziert ist, weist darauf
hin, dass sein Denken in irgendeiner Art auch diese moderne
Metaphysik kannte - deswegen kann de Kerckhove von Platon, Descartes,
Derrida, der Neurobiologie, der Anthropologie und der Gegenwartskunst
in einem Atemzug reden und diese in einem extrem für das Verständnis
unserer Welt hilfreichen Werk zusammenbringen.
Zurück zur Argumentationslinie
des Buches. Unter Berufung auf den Neurobiologen Alexander Luria wird
auf die immense Wichtigkeit hingewiesen, die der ontogenetischen
Ebene der Frontallappen im Gehirn bei der Verarbeitung von Schrift
zukommt. Bei niederen Säugetieren ist diese Ebene noch kaum
feststellbar, bei Primaten schon etwas, aber erst beim Menschen nimmt
diese ein Viertel der gesamten zerebralen Masse ein.
Eine der Besonderheiten dieser
Frontallappen ist, dass sie sich erst relativ spät autoorganisieren
und damit sich an die individuellen - umweltabhängigen - Bedürfnisse
der jeweiligen Person auch in bereits recht fortgeschrittenem Alter
anpassen können. Diese Frontallappen bilden einen Apparat, der in
der Lage ist "Projekte, Intentionen und die entsprechenden
Mittel für deren Umsetzung noch vor der eigentlichen Ausführung zu
konzipieren." (50) Diese scheinen eine notwendige Bedingung für
das Aufkommen von Sprache und ferner Schrift gewesen zu sein und de
Kerckhove argumentiert, dass - auch wenn diese Gehirnstruktur
wahrscheinlich nicht für die Schrift entstanden ist - diese
Frontallappen anhand ihrer eine enorme zusätzliche Verfeinerung
erfahren haben.
Von dieser neurobiologischen
Grundlage ausgehend, vertieft sich de Kerckhove in die Untersuchung,
welche besonderen Autoorganisationen das griechische Alphabet
bewirkt. Zwei wesentliche Grundmerkmale des griechischen Texts werden
hierzu genauer unter die Lupe genommen: Einerseits, dass er "mehr
als alle anderen Schreibweisen von seinem Bezug zum oralen Mitvollzug
befreit" (51) und andererseits, dass er von links nach rechts,
und nicht wie bei allen früheren Alphabetsystemen, von rechts nach
links verläuft.
Die geänderte Textrichtung
aktiviert hierbei die Gehirnareale, welche dem "Erkennen durch
Zerlegung" (= also dem analytischen Denken) gegenüber "dem
durch Vermitteln von Formen" (51) Vorrang geben. Dies paart sich
mit der Möglichkeit des Lesens ohne Aussprache zu einer Fähigkeit,
die das Denken in abstrakten Konzepten in einem unabhängigen,
text-internen Kohärenzsystem bestärkt und damit die spezifischen
Fähigkeit der angesprochenen Frontallappen in einer viel stärkeren
Weise aktiviert, als es in den bisherigen Schriftsystemen der Fall
war.
Diese
Psychomodulation wirkt sich letztlich natürlich auch auf die
Wahrnehmung aus, welche durch das griechische Alphabet eine gänzlich
neue Organisation erhält. Die bereits genannten Besonderheiten
trainieren die Wahrnehmung, die Welt nicht mehr als ganzheitliches
Ambiente (wie wir es noch vom Geruch, Geschmack und teilweise auch
noch vom Hören kennen) zu sehen, sondern diese Ganzheit zu zerteilen
und einzelne Objekte in ihr zu fixieren.
Die Re-Organisation, die mit der
Einführung des phonetischen Alphabets vor grob 3000 Jahren zuerst
einmal das Denken betraf, wirkte sich zeitlich versetzt auch
zunehmend auf unsere Wahrnehmung aus und generierte (oder
modifizierte) dadurch Kulturpraktiken, die sozusagen das Alphabet in
die dingliche Welt einschrieb - eine Kulturwelt schuf, die den
alphabetischen Weltzugang auch jenseits des Textes vorantrieb.
Dies ist wohl die zentrale These
dieses Buches, da es sich im weiteren Verlauf die Auswirkungen des
phonetischen Alphabets in der technischen Entwicklung des Abendlandes
ansieht.
"Nachweis einer
gelungenen Übernahme der kognitiven Strategien der Schrift in
Wahrnehmung und Kognition im allgemeinen ist der Empfang, den die
griechischen Architekten - und später die Maler der Renaissance -
der aufkommenden Perspektive bereiteten. Zunächst bezieht sich die
Art der Selektion allein auf die Verarbeitung der Sprache. Erst wenn
die Sprache zu einem Instrumentarium theoretischer Auseinandersetzung
geworden ist, werden die gewandtesten und kultiviertesten Leser auch
die Modalitäten ihrer Wahrnehmung neu organisieren. Vor diesem
Hintergrund können wir erkennen, dass die allmähliche Forderung
neuer theoretischer oder wissenschaftlicher Haltungen, die nach der
Erfindung der Schrift auftauchten, sowie die Entwicklung neuer, der
Schrift angemessener Lernzusammenhänge wie z.B. die Schule, das
Theater oder die Verwaltung neurokulturelle Modelle sind, die die
Schrift nicht einfach nur als permanenten Bestandteil der Kultur in
Szene setzen. Sie bilden vielmehr eine Art zweiter Ebene der
Alphabetisierung, die innerhalb dieser neuen Lebenskontexte
Analphabeten wie alphabetisierte Personen beeinflusst." (56)
Theater
Nachdem in den ersten zwei
Kapiteln die Grundbausteine als theoretisches Fundament gelegt wurden
- also die kognitiven Auswirkungen des Alphabets sowie dessen
Auswirkungen auf die Wahrnehmung, widmet sich de Kerckhove einer
Analyse, inwiefern spezielle kulturelle Erzeugnisse in ihrer
Entstehung vom Alphabet abhängig waren. Bevor er zu einem riesigen
Sprung ins Zeitalter des Fernsehens ansetzt, wird die Struktur des
antiken Theaters analysiert und dessen Aufkommen in Zusammenhang mit
dem griechischen Alphabet gebracht.
In einem, den neurobiologischen
Teil abschließenden Unterkapitel, gibt sich de Kerckhove verwundert
über die relative Geringschätzung der Kunst im Abendland. Denn
seiner Meinung nach trug diese einen irreduziblen Teil zur
Neuorganisation der Wahrnehmung bei, die die kognitiven Tendenzen des
griechischen Alphabets zur abendländischen Kultur mitsamt ihrer
Technoaffinität verwandelten.
So nennt de Kerckhove die
architektonische Anordnung des griechisch-römischen Amphitheaters
eine "Blick-Organisations-Machine" (86), welches eine
wesentliche Wahrnehmungsstruktur des Alphabets auch
nicht-alphabetisierten Teilen der Gesellschaft antrainierte: die
Fixierung des Sichtfeldes auf ein Objekt. Diese Art zu Sehen ist bei
Weitem nicht so selbstverständlich, wie es uns, die wir seit fast
3000 Jahren auf die abendländische Kultur programmiert sind,
erscheinen mag, und so betont Kerckhove, dass orale Gesellschaften
den Blickpunkt nicht kennen. "Sie sind also nicht spezialisiert
darauf, den Blick aus den anderen Sinnen herauszulösen, damit er
allein die Wirklichkeit rastere und interpretiere." (88) Die
alphabetische Kultur habe also eine Tendenz zum Primat des Sehsinns -
und dessen objektorientierter Strukturierbarkeit - und zum Weglassen
oder Filtrieren der anderen sinnlichen Eindrücke.
Auch die narrative Struktur einer
antiken Tragödie bestärkt diese Tendenz. Der Zuschauer wird
"gezwungen, die Details, die etwas 'bedeuten' auszuwählen und
von denen, die weniger wichtig sind, zu unterscheiden." "Der
Zuschauer sollte also den sinnlichen Reichtum der Aufführung auf
geistiger Ebene in eine abstrakte Ordnung übertragen. Er sollte
seine Sinne gegen den Sinn (Bedeutung) eintauschen." (83)
Durch diese Verfahrensweise
wurden also auch die schrift-fernen Teile der griechischen
Gesellschaft auf die alphabetische Wahrnehmungs- und Denkstruktur
eingespielt: das Theater, die Architektur, wie auch der aufkommende
Realismus und später die Perspektive verleiteten dazu, den
sinnlichen Gehalt gegenüber einer in formaler Logik abstrakt
einordnungsfähigen Objekt-Wahrnehmung zu vernachlässigen. Dies hat
positive wie negative Effekte, und de Kerckhove verzichtet
erfreulicher Weise, sich einseitig auf eine Bewertung eines so
zentralen Vorgangs einzulassen. Vielmehr betrachtet er relativ
wertneutral die sich ihm darbietenden Ergebnisse und behauptet so zum
Beispiel auch, dass das Erwachen eines kritischen, individuellen
Subjektbewusstseins eng mit dieser Psychomodulation zusammenhängt,
ohne die einseitig zu verdammen oder gut zu heißen.
Sprung,
Mission
De Kerckhove macht sich auch
keine Illusionen über die Bedingungen seiner Erkenntnis über die
Schrift:
"Dass die
Schrift nun endlich ihr wahres Gesicht zeigt und wir erkennen können,
dass sie einer der Grundbausteine unserer kognitiven Struktur ist,
hängt aufs engste damit zusammen, dass sie unter dem Druck der Neuen
Medien, die die Schrift nicht mehr nötig haben, ihren Status einer
grundlegenden sozialen Regulierung verliert." (23)
Insofern können wir mit de
Kerckhove auch nur so tief in die unsere eigenen Fundamente
hervorbringenden Psychomodulationen blicken, da dieselben bereits
seit einiger Zeit am auslaufen sind und durch andere Strukturen
ersetzt werden, über die sich wohl zum gegebenen Zeitpunkt nur
spekulieren lässt, da wir noch zu eng (und vielleicht immer mehr)
von ihnen abhängig sind.
Dennoch
oder genau deswegen lässt sich de Kerckhove im zweiten Teil der
Schriftgeburten auf
diese Spekulationen über die psychotechnologischen Auswirkungen der
Gegenwartskultur ein, zeigt Linien auf, die man bis zum Aufkommen
des Alphabets zurückverfolgen kann und auch Brüche, an denen dies
nicht mehr möglich ist. So möchte de Kerckhove die Existenz der
langen Linie vom Alphabet bis zur Atombombe behaupten und vertritt
die zentrale Behauptung: "Das griechische Alphabet ähnelt den
kodierten Sprachen des Computers insofern, als beide nicht
zwangsläufig den Körper des Lesers beteiligen müssen, um zu
funktionieren" (96)
Innerhalb
dieses Rahmens lässt der Nachfolger McLuhans auch soetwas wie eine -
in Ermangelung eines besseren Wortes - "ideologische"
Mission oder Forderung durchscheinen: er möchte weg von dieser Sinn-
und Text-zentrierten Weltanschauung um sich wieder einer
ganzheitlicheren Sinnes-Wahrnehmung
zu öffnen. Es geht ihm also darum, "die kognitiven Strukturen
des 'Text-Denkens' zu
überlisten, um unsere Sinne und unseren Geist wiederzufinden, damit
wir eine Katastrophe verhindern können." (103) Mit dieser
Katastrophe meint de Kerckhove nicht weniger als die globale
Selbstvernichtung der Menschheit und damit lässt er sich in den noch
recht schwächlichen, aber mit Sicherheit zukunftsträchtigen Flügel
der ökologischen
Philosophie einordnen.
Und tatsächlich lassen sich verblüffend viele inhaltliche
Parallelen zu einem anderen, bedeutenden Vertreter der noch in den
Geburtswehen befindlichen ökologischen Philosophie
feststellen: zu Michel Serres.
Auch
wenn dieser Autor aus einem gänzlich verschiedenen Traditionsfeld
stammt und einen komplett anderen Schreibstil an den Tag legt, sind
die Kerngedanken beinahe ident: wie Derrick der Kerckhove ist auch
Michel Serres, wie er es am anschaulichsten in seinem im selben
Erscheinungsjahr (1990) wie Schriftgeburten
erschienenem contrat
naturel
aufzeigt,
der Ansicht, dass unsere auf rationale Analyse ausgerichtete Kultur
eine zusehende Entfremdung von der Umwelt bewirkt(e), die
letztendlich in der globalen Auslöschung kulminieren wird, wenn wir
nicht ein neues, globales Bewusstsein entwickeln. Beide deuten an -
wir werden dies später sehen - dass eine neue Vernunft für dieses
Unterfangen notwendig sein wird
und beide stufen die sogenannten Neuen
Medien
dafür als nützlich ein und lösen sich damit von einem biederen
Kulturpessimismus, ohne der blinden Technophilie zu verfallen. Und zu
guter Letzt tritt auch Michel Serres für eine Demokratisierung
der
Sinne ein, also einem (Rück-)Übergang vom Primat des Sehsinns und
dem Sinn, zu den Sinnen, dessen Hemmung auch Michel Serres (u.a.) der
Schrift zuordnet.
Diese
großen Parallelen zwischen zwei - oberflächlich betrachtet - so
unterschiedlichen Denkern sind sehr spannend und sollten bei
genauerer Analyse große Synergieeffekte freisetzen.
Im
Gegensatz zu Serres kann man de Kerckhove definitiv nicht der
sogenannten Post-Strukturalistischen Tradition zuordnen und doch
scheint er mit dieser Schule eng vertraut gewesen zu sein, wie
beiläufige Erwähnungen über Roland Barthes, Jacques Derrida und
anderen Autoren verraten.
Dem
einzigen
- mehr oder minder - gegenwärtigen Philosophen, den de Kerckhove
einer Kritik unterzieht - und auch dies nur sehr en
passant
- ist der allgemein als Begründer der "Dekonstruktion"
bekannte Jacques Derrida (101 ff.). Diese Kritik ist sehr erhellend
und lässt zumindest erahnen, in welchen Gedankengut und Diskursen
sich de Kerckhove einordnen lässt - sie ermöglich das
Brückenschlagen zum großen Pol der Postmodernen Philosophie.
Aus
einer Alltagsanekdote entwachsend, kritisiert de Kerckhove, dass für
Derrida alles nur Text sei und er letztendlich der großen
abendländischen Denkfalle erlegen ist, zu glauben, dass die Welt von
Natur auf textlich verfasst und strukturiert ist - wo hingegen de
Kerckhove dies nur als einen unter vielen psychotechnologisch
hervorgebrachten Weltzugang ausweisen und für einen anderen werben
will. Derrida ist der alphabetisch-abendländischen Kultur also auf
den Leim gegangen: er verwechselt eine technologische Modulation der
Psyche mit einer Naturgegebenheit und ist so der Meinung, dass alles
ecriture ist. Daher
beruft sich die viel-gehypte Methode der Dekonstruktion einzig auf
das Zerlegen von Sprachverhältnissen und deswegen entstehen in
jüngeren Ergebnissen dieses Forschungsansatz teilweise absurde
Verwechslungen oder Gleichsetzungen von Wort und Welt.
Obwohl
Derrida also wohl dem von ihm selbst aus der Taufe gehobenem
Logozentrismus
am allermeisten verfallen ist, war seine Arbeit ein wichtiger Schritt
zur Dekonstruktion der auf Platon zurückgehenden abendländischen
Philosophie. Seine Totalisierung des Textes ermöglichte vielleicht
erst ein begriffliches Erfassen, dass ein Denken hinter dem, in über
3000 Jahren verfestigten, griechisch-alphabetischen Logozentrismus
ermöglichte, wie es bei de Kerckhove oder eben auch Michel Serres zu
finden ist.
Fernsehevangelismus
Nach den oben summarierten,
theoretische Grundlagen legenden Kapiteln beschäftigen sich die
nächsten drei etwas kurioser Weise mit McLuhan, dem christlichen
Glauben und dem Fernsehen. So werden Fragen verhandelt, warum McLuhan
Katholik war und wie sich die christliche Kirche auf das Zeitalter
des Fernsehens einstellen muss.
Mir - als Nicht-Christen -
erscheinen diese Fragen relativ belanglos und, obwohl ich die Kapitel
mit Interesse gelesen habe, werde ich mich damit bescheiden, die für
den (mir interessant erscheinenden) theoretischen Gesamtausblick
relevanten Bemerkungen zum Fernsehen zu wiederholen und davon
absehen, nachzuzeichnen was Johannes Paul den Zweiten zu einem
besonderen Papst macht(e).
Das
Fernsehen und die Atombombe - positiv gesehen
Sehr amüsant an de Kerckhoves
Ansatz ist, dass er versucht, zwei Lieblings-Hassobjekte des
intellektuellen Diskurs nach 1945 - das Fernsehen und die Atombombe -
positiv zu lesen.
So bemerkt er, dass uns mit dem
Mikrophon und dem Fernsehen erstmals im Abendland wieder orale
Strukturen einholen. Nachdem seit dem Aufkommen des griechischen
Alphabets und dessen vielfacher Verstärkung durch den
Gutenberg'schen Buchdruck (als dessen unmittelbares Ergebnis de
Kerckhove übrigens die protestantischen Kirchenspaltungen einstuft)
unser Augenmerk immer mehr, auf die stille, optisch-logische Analyse
gelenkt wurde, sehen wir uns nun zum ersten Mal mit einem
Wiederaufkommen einer oralen, sinnlichen Präsenz ausgesetzt.
"Die Welt wurde
[in der griechischen Antike] nach Modellen neu definiert, in denen
eine logische Beziehung zwischen dem Ding an sich und seiner
objektiven Erscheinung bestand. Erst das Fernsehen, das beim
Zuschauer eher sinnliche als rationale Aktivitäten hervorruft,
verunsichert dieses Modell. Seit Beginn der sechziger Jahre lassen
sich immer mehr Menschen von den alten, mythischen Traditionen
anziehen." (124)
Das Fernsehen formt also unsere
Sinnlichkeit neu, hat aber auch die - oftmals gefährlich eingestufte
- Tendenz, den Zuschauer einer kritisch-rationalen Haltung zu
berauben.
Dem generellen,
"psychotechnologischen" Ansatz des Buches treu bleibend,
beharrt de Kerckhove auch beim Fernsehen darauf, das seine
grundlegendste Auswirkung eine neurologische ist - also das Fernsehen
wiederum unsere kognitiven Wahrnehmungsstrukturen grundlegend
verändert.
Während wir beim Lesen von
(alphabetischen) Text zu "Widerständen" gemacht werden,
verwandelt uns das Fernsehen zu "Halbleitern".
"Das
schrittweise und analytische Verfahren der Lektüre erlaubt es dem
Leser also, Barrieren und Filter, bestehend aus seinem erworbenen
Wissen und seiner vorangegangenen Erziehung zu errichten, um
zweifelhaften Begriffen und Vorstellungen entgegenzutreten. Der
Fernsehzuschauer ist dagegen gezwungen, Bilder und Töne ohne
jegliche Verteidigungsmechanismen zu akzeptieren." (138)
Doch obwohl de Kerckhove die
kulturellen Gefahren dieser Neuentwicklung sieht und scharf erkennt,
verfällt er nicht einem Adorno-esken Kulturpessimismus, sondern
ordnet die Psychomodulation des Fernsehens nüchtern entlang seiner
Begrifflichkeiten ein und versucht auch zu unterstreichen, dass sie
ebenso positive Auswirkungen hat: so, dass das Fernsehen ein Wegpunkt
zur Errichtung einer planetarischen Identität ist, die sich im
Computer und Internet von ihren negativen, anfänglichen
Begleiterscheinungen befreit - dazu mehr weiter unten. De Kerckhove
sieht also die Gefahren der Verblödung, die das Fernsehen mit
sich bringt, allerdings spielt es eine wesentliche Rolle im Entstehen
einer neuen, weniger text-zentrierten Sensibilität, die er im
Allgemeinen begrüßt.
Mit genau derselben Ausrichtung
liest de Kerckhove auch die wohl noch viel fatalere Atombombe.
Natürlich sieht er die mit ihr verbundene, noch nie zuvor dagewesene
Gefahr der Selbstauslöschung der Menschheit, allerdings konstatiert
er, dass ihre Erfindung unvermeidlich war, da sie von den Strukturen
des Alphabets vorgezeichnet wurde. Deswegen besteht unsere Aufgabe
darin, "unsere Angst vor apokalyptischen Vorstellungen zu zähmen
und zu einer pointierten, rationalen Durcharbeitung zu gelangen."
"Obwohl sie mit der universellen Zerstörung droht, können wir
in ihr ebenso eine pädagogische Bedeutung erkennen, insofern als sie
die Menschen reifer werden lässt, eine neue globale Verantwortung
zu übernehmen." (143)
Nach de Kerckhove befinden wir
uns gerade im kulturellen Übergang von einer "explosiven
Zivilisationsform des phonetischen Alphabets zu der implosiven
Zivilisationsform der Elektrizität" (144) Die Bombe hilft uns
dabei, diesen Übergangsprozess zu beschleunigen. Sie zwingt uns,
"ausgrenzende Verhaltensschema zugunsten einer neuen Haltung der
Weltoffenheit hinter uns zu lassen", wir müssen von nun an "den
existenziellen Bedürfnissen nicht nur auf lokaler, sondern auch auf
globaler Ebene Rechnung tragen." (147) Dies zieht allerdings
auch einen Zwang zur "Verwestlichung des Planeten" mit im
Schlepptau, da sich aufgrund dieser permanent in der Luft hängenden
Bedrohung, jeder Staat der (Kriegs-)Logik der
westlich-abendländischen Technologie anpassen muss.
Zusammengefasst ist die Atombombe
also keine Bedrohung, vor der wir uns in apokalyptische
Schreckensbilder flüchten sollen, sondern eine noch nicht erfüllte
Aufgabe. Sie "zwingt uns, das zu erkennen, was uns weder
Überbevölkerung noch Hungersnot oder Umweltverschmutzung bis heute
begreifen machen konnten." (157) Nun müssen wir begreifen,
"dass das phonetische Alphabet Ausdruck einer der menschlichen
Natur inhärenten unheilvollen Möglichkeit ist" und "dass
die Atombombe die unvermeidliche Konsequenz eines grotesken
Missverhältnisses zwischen der im Alphabet angelegten Entwicklung
der Technologie und dem primitiven Niveau unserer sozialen Evolution
ist." (158)
Übergang
in ein neues Zeitalter
Die sozialen Fähigkeiten, die
eine Welt der Atombombe erfordert, rufen nach einer neuen Vernunft
(vgl. 158), die in der Lage
ist, unser Zeitalter der Elektrizität in seinen eigenen Begriffen zu
verstehen - ohne Rückgriff auf das auslaufende Denken der Ordnung
des phonetischen Alphabets.
Wir
betreten also eine neue Ära, die es auszuloten gilt, und die zu
einem neuen Grad an technologischer Veräußerung geführt hat:
"Während die industrielle Ära eine ausgeklügelte Veräußerung
unseres Muskelsystems gewesen ist, entspricht die neue elektronische
Umwelt einer Veräußerung unseres zentralen Nervensystems."
(152)
Mit
einer Analyse dieser Veräußerung und ihren psychomodulativen
Auswirkungen, die - zumindest nach Stand des Erscheinungsjahr des
Buches 1990 - ihren höchsten Kulminationspunkt im Computer gefunden
hat, befasst sich der letzte Teil von Schriftgeburten.
Der
Computer bildet für de Kerckhove eine vorteilhafte Fusion der
Eigenheiten von Alphabet und Elektrizität. Während der Fernseher -
extremerer Pol der Elektrizität - uns damit bedrohte, unsere
Autonomie zu verlieren, gleicht der Computer "einem
Fernsehbildschirm, der uns mit Vehemenz zum Buch zurückführt."
Das
Fernsehen, hat nicht nur "die verbale Analyse und die
Kritikfähigkeit unterdrückt, sondern das Gehirn regelrecht
zensiert. Das Buch machte aus uns dagegen vollständige, in sich
abgeschlossene Individuen. Bezahlen mussten wir diesen Schritt
allerdings mit der unvermeidlichen Manipulation unseres
Nervensystems. Denn wir waren gezwungen, den Körper systematisch und
fortwährend zu unterdrücken." (162) Beide Techniken bilden
also jeweils einen extremen Pol an kulturellen Auswirkungen, indessen
Mitte der Computer sich positioniert: einerseits eröffnet er uns,
wie auch der Fernseher, eine neue Sinnlichkeit, ohne aber die
negativen Auswirkungen des Verlusts jeglicher Kritikfähigkeit mit
sich zu bringen. Mit dem Computer sind wir also in der Lage, ein
globales Bewusstsein herzustellen, ohne dabei der totalen
Fernsehverblödung zu verfallen.
Mit
der Veräußerung des zentralen Nervensystems,
die der Computer darstellt, ergibt sich eine "technologische
Entwicklung zur Fusion von Denken und Handeln" (182), durch die
der Mensch aber nicht - wie viele Techno-apokalypitker heute wie
damals befürchten - zu einer willenlosen Veräußerung der Maschine
wird.
Das Potential dieser technischen
Revolution ist vielmehr eines, das von den postmodernen,
abendlandkritischen Denkschulen dies- wie jenseits des Rheins seit
mehr als einer halben Dekade gefordert wird: die Überwindung der
Abendlandes: "Den neuen Technologien ist eine fundamentale
Option inhärent, die bisher kaum vom wissenschaftlichen und
kritischen Denken in Augenschein genommen worden ist. Dieser besteht
darin, den psychologischen Kurs unseres griechisch-römischen Erbes
zu überwinden." (182)
Der Fortgang dieser
hochaktuellen, technologischen Entwicklung ist naturgemäß noch
nicht entschieden: für de Kerckhove ist es noch unentschieden, ob
wir, nachdem wir dank moderner Technologie der biologischen
Determination mehr und mehr entgehen können, nicht der
technologischen Determination umgekehrt proportional in die Falle
gehen (vgl. S. 181 ff.). Die Virtualität ist aber - auf diesen sehr
zukunftsweisenden Punkt insistiert der Kanadier - nicht per se ein
Vorbote von Kulturverfall. "Denn die Virtualität kann auch
Garantie für unsere Autonomie und Freiheit sein" (183), sie
"entsteht aus der evolutionären Stoßkraft der Menschen, die zu
einer maximalen Öffnung für die Welt strebt. Wir kommen an einen
Punkt, an dem sich das Verhältnis von Festgelegtem und Virtuellem,
von Determination und Freiheit verändert." (184)
Um dieser immensen Veränderung
begrifflich gerecht zu werden - und ihr genau dadurch nicht in
technologischer Determination oder - vulgärer - Verblödung
anheimzufallen, ist eine "radikale Veränderung unserer
Einstellung zur Technologie" vonnöten. Für Derrick de
Kerckhove ist der einzulegende Kurs klar: "Statt unsere
Maschinen zu fürchten, müssen wir sie überwinden, das heißt, wir
müssen sie im Inneren unseres psychologischen Universums, unseres
Körper- und Weltbildes absorbieren." (185)
Résumé
Fünfundzwanzig
Jahre sind seit dem Erscheinen der französischen Erstausgabe von
Schriftgeburten vergangen.
Das Internet, damals gerade in primitiven Kinderschuhen steckend, ist
heute zum unvorhergesehen potenten Leitmedium geworden und die
technologischen Innovationen der "Post-Computer"-Ära
re-strukturieren die Welt nochmals von Neuem. Trotz all dem,
erscheint de Kerckhoves 1990 erschienenes Werk aktueller als viele
Bücher späteren Erscheinungsdatums zum Thema. Die digitale
Revolution und die Welt des Computers wird auf eine Art analysiert,
die - aus dem Jahre 1990 kommend - fast hellseherisch wirkt.
Was die Aktualität und ungeheure
Schärfe des Werks ermöglicht, ist wohl das profunde Kenntnis der
Philosophie, deren große Stärke ein um vielfaches älterer Kanon
als von jeglicher anderen Wissenschaft ist. Durch diesen langen
kanonischen Rattenschwanz ist die Philosophie zwar oft träge, aber
wenn nach vorne gerichtet, tiefgründig wie wenig andere
Wissensgebiete. Dies erklärt auch, warum de Kerckhoves Werk noch
heute so aktuell erscheint: sein Buch ist zwar nicht gespickt von
Zitaten großer Philosophen, doch auch wenn er sich hauptsächlich
und in der Literaturliste ausgewiesen an einem wissenschaftlichen
Kanon des 20. Jahrhunderts abarbeitet, merkt man, dass er eine
fundierte Ahnung vom geistesgeschichtlichen Verlauf der letzten drei
Millennia hat.
Ab und zu verwundert es einen,
wie wenig bekannt
Derrick der Kerckhoves Schaffen ist - die immense Tragweite seines in
Schriftgeburten vorgebrachten Entwurfs lässt anderes
vermuten. Sicherlich - man kann dem Kanadier vorwerfen, dass auch er
selbst die Schrift - oder, in seiner Terminologie: das griechische
Alphabet - verabsolutiert hat: an manchen Stellen hat man tatsächlich
das Gefühl, dass de Kerckhove die abendländische Kultur wirklich
einzig und nur aus
dem griechischen Alphabet hervorgehen sieht. Dies würde tatsächlich
die Rolle des Alphabets ungerechtfertigt aufblähen und eine
Multitude anderer, zentraler und wohl nie in ihrer Vollständigkeit
rekonstruierbarer Faktoren vernachlässigen. Doch dieser Vorwurf
würde de Kerckhove beschuldigen, einfältiger zu sein, als er sich
in seinem Werk präsentiert: Natürlich besteht immer die Gefahr bei
der Analyse eines Elements es zu verabsolutieren. Doch dies ist
vielmehr nur ein Anschein, den die Form der Untersuchung suggeriert,
als das er eine wirklich intendierte Intention des Autors wäre.
Wenn man de Kerckhove gerecht
behandeln will, muss man im zugestehen, die Bedingungen des
Abendlandes nicht so einseitig zu sehen, wie man es im vorwerfen
könnte. Nein - seine relative Unpopularität scheint mir vielmehr
darin begründet, dass die Philosophie, wie schon erwähnt, ein sehr
träges Fach ist. Und da viele Vertreter dieses Fachs noch die
Neurobiologe mit völlig veralteten Begrifflichkeiten attackieren,
kann die immense theoretische Schlagkraft dieses Werks noch nicht
allgemein akzeptiert worden sein. Doch - solange die Zeit in
irgendeiner vernünftigen Art und Weise (eine Vernunft die wir, wie
de Kerckhove es selber weiß, ja erst wieder finden müssen) -
weiterfließen sollte, wird das hier rezensierte Buch an Bedeutung
gewinnen.
Viele seiner Ansätze sind
wegweisend und für eine Philosophie von morgen höchst nützlich. So
kann zum Beispiel seine Sicht auf die Überwindung des Abendlandes
durch ein richtiges Verständnis der Technologie den
abendlandkritischen Schulen der Post-Moderne ein bitter nötiges Ziel
ausweisen. Denn ohne dieses Ziel verfängt sich jene an und für sich
sehr richtige Kritik in einer verkrampften Haltung der
Dekonstruktion, die - trotz vordergründig lautstarker Ablehnung -
die uralten abendländischen Tendenzen weiter bestärkt.
Dieses
neue Ziel lässt sich bei de Kerckhove, Michel Serres und - um auch
ein bisschen der Populärkultur Beachtung zu schenken - im immerzu
wachsenden Bereich der Yoga-Philosophie
finden: es handelt sich um eine Demokratisierung der Sinne, um eine
Befreiung der anderen Sinne vor dem Primat des Sehsinns und der
logischen Analyse. Es handelt sich um eine neue Sinnlichkeit,
die sich der abendländischen Misere vielleicht endgültig entzieht.
Dies erscheint mir als das produktivste Ziel, welches uns der
derzeitige Stand des Diskurses erlaubt anzuvisieren.
Kilian
Jörg, März 2014
Bibliographie
de
Kerckhove, Derrick:
Schriftgeburten - Vom Alphabet zum Computer. Wilhelm Fink Verlag:
München 1995.