Sonntag, 30. September 2018

Nietzsches Neue Vorsicht - project exposé after two months of work in Weimar

Jorinde Schulz and me just finished two months of extensive work on our next book project as fellows of the Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar. Below you can find an exposé of our project in the making. We are excited about feedback, ideas and suggestions.


Nietzsches Neue Vorsicht Untersuchungen zum Denken der Blase

"Neue Vorsicht. — Lasst uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Einen Einzelnen werden wir selten verändern; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas mitgelungen: wir sind durch ihn verändert worden! Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss auf alles Kommende seinen Einfluss aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! — und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den Andern durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg!"1

Strafen, Tadeln, Bessern – das ist der erzieherische Reflex jeder überzeugten Person, das ist die diskursive Angewohnheit einer Vielzahl politischer Bewegungen und Akteure. Nietzsches „Neue Vorsicht“ trifft den wunden Punkt dieser Art und Weise, Zukunft gestalten zu wollen: wenn eine Politik der Transformation sich darauf versteift, Einzelne zu erziehen, erschöpft sie sich im „directen Kampfe“, im ständigen Dagegen-Sein. Ein Phänomen, das man nicht zuletzt im reaktiven Anfeinden beobachten kann, in dem manch emanzipatorisches Projekt affektiv verkümmert. Die Konsequenz eines moralistischen Anklage- und Abstrafungsgestus ist, so die unangenehme Erkenntnis Nietzsches, sich dem anzugleichen, was man eigentlich verändern wollte.
Es ist eine Loslösung von sokratisch geprägter Transzendenz und die damit einhergehende Lockerung der Engführung von Politik und Moral, welche Nietzsche den Blick frei macht, Theorie und Praxis radikal nach ihrer Wirksamkeit zu befragen – danach, was ein Wissen, ein Diskurs, ein Denken eigentlich tut, mit einem selbst und mit einem umgebenden Milieu.
Die einer solchen ätiologischen Betrachtung entspringende Praxis, welche hier unter dem Titel einer „Neuen Vorsicht“ vorgeschlagen wird, ist eine Haltung der radikalen Abschottung: „Gehen wir bei Seite! Sehen wir weg!“ Ist man dem politischen Aktivismus verschrieben, muss diese Empfehlung zutiefst provozieren. Denn auf den ersten Blick scheint sie ein Programm des stillschweigend konformistischen Eskapismus zu beschreiben, das mitnichten auf „alles Kommende“ einwirkt. Doch gerade aus einer politischen Perspektive wollen wir die Nietzsches Neue Vorsicht aktualisieren, um einen ökologisch informierten, affektökonomisch klugen und postmoralischen Begriff von Subjektivität herauszuschälen.

Ein Blick auf den Ecce homo erlaubt es, den Begriff zu differenzieren und einzubetten. In diesem Werk holt Nietzsche das Denken nämlich in vitalistischer Manier auf den Boden der klimatischen Bedingungen, der geographischen Verortung und der Funktionen des Stoffwechsels. Der oben beschriebene Ethos einer bewussten Abtrennung taucht hier wieder auf, als reichhaltiges Konzept einer situierten Haltung – und das heißt zugleich als Geschmack und Selbstverteidigungsinstinkt:

"In Alledem — in der Wahl von Nahrung, von Ort und Klima, von Erholung — gebietet ein Instinkt der Selbsterhaltung, der sich als Instinkt der Selbstvertheidigung am unzweideutigsten ausspricht. Vieles nicht sehen, nicht hören, nicht an sich herankommen lassen — erste Klugheit, erster Beweis dafür, dass man kein Zufall, sondern eine Necessität ist. Das gangbare Wort für diesen Selbstvertheidigungs-Instinkt ist Geschmack. Sein Imperativ befiehlt nicht nur Nein zu sagen, wo das Ja eine „Selbstlosigkeit“ sein würde, sondern auch so wenig als möglich Nein zu sagen. Sich trennen, sich abscheiden von dem, wo immer und immer wieder das Nein nöthig werden würde. Die Vernunft darin ist, dass Defensiv-Ausgaben, selbst noch so kleine, zur Regel, zur Gewohnheit werdend, eine ausserordentliche und vollkommen überflüssige Verarmung bedingen. Unsre grossen Ausgaben sind die häufigsten kleinen. Das Abwehren, das Nicht- heran-kommen-lassen ist eine Ausgabe — man täusche sich hierüber nicht —, eine zu negativen Zwecken verschwendete Kraft. Man kann, bloss in der beständigen Noth der Abwehr, schwach genug werden, um sich nicht mehr wehren zu können.“2

In diesem Zitat wird deutlich, dass Nietzsche die Neue Vorsicht auf Überlegungen affektökonomischer wie klimatisch-ökologischer Art gründet. Der immer drohende Burnout einer neinsagenden („kritischen“) Haltung – den man vielerorts als Hang zur Aufreibung innerhalb der politischen Aktion beobachten kann – rührt daher, dass jede Handlung, jede Äußerung „dagegen“ eine Ausgabe von Kräften ist: Nicht nur „verdunkelt“ Kritik, sie „kostet“ auch. Daher gilt es Nietzsche, sich selbst in optimalen klimatischen und geographischen Bedingungen zu situieren, um die eigene Lebenskraft zu erhalten und zu steigern. Vordergründig geht es dabei um die volle Entfaltung individueller Ressourcen in einer Umwelt, die keine „Stacheln“ und kein Neinsagen erfordert. Doch die ästhetische – d.h. sinnlich erspürte – Selektion einer Umgebung muss sich die Frage nach einem Austausch stellen und führt damit auf einen größeren Immanenzzusammenhang: Wie man wirken kann, hängt von einem Stoffwechsel, einem Affizierungsgeschehen zwischen Individuen und Umgebung ab. Und so führt die Selbstgestaltung zur Ökologie3: die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt - und Lehre vom „Haushalt der Natur“.4
Wie nun nutzt Nietzsche seine Sensibilität für Stoffwechselprobleme?
- Gesetzt, ich trete aus meinem Haus heraus und fände, statt des stillen und aristokratischen Turin, die deutsche Kleinstadt: mein Instinkt würde sich zu sperren haben, um Alles das zurückzudrängen, was aus dieser plattgedrückten und feigen Welt auf ihn eindringt. Oder ich fände die deutsche Grossstadt, dies gebaute Laster, wo nichts wächst, wo jedwedes Ding, Gutes und Schlimmes, eingeschleppt ist. Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? — Aber Stacheln zu haben ist eine Vergeudung, ein doppelter Luxus sogar, wenn es freisteht, keine Stacheln zu haben, sondern offne Hände…"5
Sich als ständig vom Untergang bedrohte Minorität stilisierend wählt der Denker das vornehme Turin als Präferenzmilieu. Und outet sich als einer der ersten Denker der Blase.

 
Blasenwelten
Die Blase – als Inbegriff des geschlossenen, nährenden Milieus - hat zur Zeit eine immense Faszinationskraft und ist ein
case in point der Verquickung von ökologischen und politischen Phänomenen. Im dicht besiedelten 21ten Jahrhundert kennen wir sie nur allzu gut, Peter Sloterdijk hat eine ganze Philosophie auf ihr aufgebaut. Vom Mutterleib an leben wir in der sphärischen Umhüllung, die allerwenigsten schaffen es, diese erste Blase zu verlassen - und wenn, dann nur um in die nächste überzuwechseln: Stadtblasen, Kulturblasen, Intellektuellenblasen, Verschwörungsblasen, Filterblasen... Innerhalb des Sozialen nimmt die Blase eine ambivalente Doppelfunktion ein: Einerseits kann sie als Schutzraum auftreten, der durch eine gewisse Verschließung das Aufkeimen und Gedeihen alternativer Lebensstile und politischer Subkulturen ermöglicht6.
Andererseits sind Blasen auch Orte, wo harmonische Einigkeit und Übereinstimmung herrscht, die häufig kaum über die Grenze der eigenen Bubble hinausreicht. Hier werden Inhalte und Praktiken kultiviert, die sich im Inneren verstärken und einschwingen, ohne jedoch den Austausch mit einem „anderen“ Außen zu suchen. (Als bestes Beispiel kann man die demonstrativ und doch apathische Verstörung anführen, welche urbane Kulturbürger_innen, Progressive und Privilegierte einem kulturellen backlash entgegenbringen – diese Blasen fungieren nach Innen hin stabilisierend, nach Außen erwirken sie allerdings eine Verhärtung und Polarisierung.)

Mit der Markierung dieser Ambivalenz sind wir wieder bei der schon zu Anfang skizzierten Spannung einer Neuen Vorsicht angelangt, die zwischen einer effizienten Strategie des Entzugs und einer zynischen Kokonisierung zu oszillieren scheint. Es ergeben sich drei Schwerpunkte für unser Projekt:

Erstens geht es uns um die Neue Vorsicht als Haltung, die im Rahmen einer Politik der Wirksamkeit ein Handlungsrepertoire von kluger Abtrennung bis affektökonomisch kalkulierter Einmischung einzusetzen weiß. Um die Motivationen und Triebfedern dieser Ethik zu verorten, befragen wir Nietzsches Werk und Biographie ausgehend vom brillanten Denkportrait Nietzsches aus der Feder seiner engen Freundin und Verehrten Lou Andreas-Salomé. Außerdem setzen wir diese in Beziehung zu anderen Denkern der „Vorsicht“ wie Guy de Maupassant oder Julien Offray de la Mettrie.
Einen Seitenblick werfen wir auf Urgesteine des „chinesischen Denkens“ wie Laotse oder Konfuzius, da diesen ein strukturell durchaus ähnliches Heraushalten als Zentrum ihres gesamten ethisch motivierten Philosophieren gilt7. Im interkulturellen Abgleich unter Berücksichtigung der sozio-kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Kulturräume wollen wir Erkenntnisse über die Bedingungen der Emergenz einer solchen Haltung gewinnen. 


Zweitens möchten wir die im ersten Schritt skizzierte Individualethik auf dem Feld einer ökologischen Vernunft ansiedeln. Hierunter verstehen wir ein Denken in ganzheitlichen Prozessen und Umweltzusammenhängen – in Abgrenzung zu einem primitiven Ökologiebegriff, der von einer Glorifizierung und einem Zurück zur „Natur“ lebt. Nietzsches klimatische, physiologische und energetische Überlegungen werden durch Lektüren neuerer ökologischer Denker*innen wie Isabelle Stengers und Ilya Prigogine, Josef Reichholf, Alf Hornborg zu einem dynamischen Ökologiebegriff geführt, der Ungleichgewichtssysteme und Metastabilitäten ins Auge fasst8. Die Auseinandersetzung mit einer ökologischen Vernunft steht dabei in einem engen Zusammenhang zu feministischen Beiträgen, welche die Verquickung und Engführung des Weiblichen mit dem Natürlichen kritisch untersucht und dekonstruiert haben, wie beispielsweise die von Carol Merchant oder Klaus Theweleit. Ökologisch zu denken heißt so bisweilen, als weiblich unterdrückte Phänomenbereiche neu ans Licht zu bringen (Vulva!), und geht mit einer Reflexion von Geschlechterverhältnissen einher. Der auf ersten Blick typische Mannsphilosoph Nietzsche kann sich so auf den zweiten Blick als weiblich-weibischer Denker outen.
Für eine Ethik des Lebens im Anthropozän scheint eine solche Ästhetik der Gestaltung von und Einhegung in atmosphärische und immersive Machträume sowie ökologischen Nischen unausweichlich. Ausgehend von der von Latour aufgestellten These, dass uns in diesem Zeitalter des Hereinbrechens ökologischer Katastrophen mehr und mehr die geteilte Welt abhanden gekommen ist, wollen wir diesen Zustand als (vorerst) irreversibel anerkennen und für ihn progressive ethico-politische Lösungen und Strategien erarbeiten. Entgegen einer in progressiven wie konservativen Lagern verbreiteten Tendenz auf diesen Realtitätsverlust mit dem Beharren auf das Wiedererlangen einer universal geteilten Welt zu reagieren, wollen wir als produktiveres Gegenangebot eine Ethik des Blasendaseins entwickeln, welche politische wie andere Handlungen stets innerhalb ihrer ökologischen Situiertheit begreifen will.



Drittens soll die Blase als soziopolitisches Phänomen mit spezifischen medialen Ermöglichungsstrukturen im Zentrum stehen und einen konkreten Testfall für den erarbeiteten begrifflichen Rahmen abgeben. Das Ziel ist es, dieses sozialstrukturelle Gebilde analytisch zu greifen und Strategien des Umgangs mit ihm zu entwerfen, die ganz konkret fragen, wie sich Sozialitäten der Blase zwischen verschlossener Echokammer und ermöglichendem Schutzraum gestalten lassen. Das gegenwärtig virulente Motto „Raus aus der Blase“ verfolgen wir in seine psychologischen und metaphysischen Prämissen und fragen, wie wir nach dem Tod einer geteilten Welt dem Schwindel einer umfassenden Entfremdung begegnen, ohne auf den Backlash-Trick neuer monumentaler Transzendenzen hereinzufallen. Perspektivismus und progressive Zukunftsvektoren, die Einzelsegmente der Gesellschaft verbinden können wie geht das zusammen?9 Das sich hieraus ergebende Lob der Narration rührt aus der Erkenntnis, dass eine Realtität ohne Zukunftsvektor (no future) nie den vollen sinnlichen feel einer Realität haben kann. Dadurch wollen wir neue Perspektiven auf viel (aber oft engstirnig) diskutierte Probleme wie "Post-Truth", Filterblasen und alternative Fakten anbieten. Bleiben wir der Wahrheit treu! Aber versuchen wir sie nicht in einem großen Rückfall in den Platonismus (nach Nietzsche) zu zementieren… Denn vielleicht gibt es sie auch nur im Blaseninneren?


---------------------
1Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, § 321
2Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin, 8.
3Der Begriff der Ökologie taucht bei Nietzsche selbst nicht auf – liegt aber unserer Meinung nach wie oben skizziert bei ihm angelegt. Zudem ist das Irdische ein übersehener Faktor in seinem Denken, wie es schon Deleuze betont, und neben der Betonung der Leiblichkeit der Vernunft zieht sich auch die Berufung auf die Erde durch sein Werk.
4So steht es im Duden. Abgerufen auf duden.de am 25.08.16.
5Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin, 8.
6 Im Kapitel „Tür“ aus unserem Buch aus unserem Projekt Die Clubmaschine, lesen wir den Club als eine solche Blase, in der erst die Verpanzerung durch harte Betonmauern und noch härtere Türsteher es ermöglicht, minoritäre Sexualitäten und Körperlichkeiten zu entwickeln.
7 vgl. z.B. Jullien, François: Über die Wirksamkeit. Merve Verlag: Berlin 1999.
8 Insbesondere Josef Reichholfs schmalen Band "Stabile Ungleichgewichte - Die Ökologie der Zukunft" halten wir für wichtig. Hierin versucht dieser - im Erbe Ilya Prigogines - der Ökologie das Gleichgewichtsdenken als humanistisches Missverständnis auszutreiben und vom Ungleichgewicht her zu denken.
9Dabei schließen wir an Überlegungen zu einer Interventionsstrategie an, die milieusensibel und affirmativ ist und aus dieser Haltung heraus Änderungsimpulse geben kann, die wir unter dem Titel „Das Anti-Chamäleon“ in der Zeitschrift engagée veröffentlicht haben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen