Jorinde Schulz and me just finished two months of extensive work on our next book project as fellows of the Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar. Below you can find an exposé of our project in the making. We are excited about feedback, ideas and suggestions.
Nietzsches
Neue Vorsicht –
Untersuchungen zum Denken der Blase
"Neue
Vorsicht. — Lasst uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und
Bessern denken! Einen Einzelnen werden wir selten verändern; und
wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas
mitgelungen: wir sind durch ihn verändert worden! Sehen wir vielmehr
zu, dass unser eigener Einfluss auf alles Kommende seinen Einfluss
aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! — und
das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben
wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer
leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den Andern durch unser Licht!
Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden, gleich
allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen
wir weg!"
Strafen,
Tadeln, Bessern – das ist der erzieherische Reflex jeder
überzeugten Person, das ist die diskursive Angewohnheit einer
Vielzahl politischer Bewegungen und Akteure. Nietzsches „Neue
Vorsicht“ trifft den wunden Punkt dieser Art und Weise, Zukunft
gestalten zu wollen: wenn eine Politik der Transformation sich darauf
versteift, Einzelne zu erziehen, erschöpft sie sich im „directen Kampfe“, im ständigen Dagegen-Sein. Ein Phänomen, das
man nicht zuletzt im reaktiven Anfeinden beobachten kann, in dem
manch emanzipatorisches Projekt affektiv verkümmert. Die Konsequenz
eines moralistischen Anklage- und Abstrafungsgestus ist, so die
unangenehme Erkenntnis Nietzsches, sich dem anzugleichen, was man
eigentlich verändern wollte.
Es ist eine Loslösung von sokratisch geprägter
Transzendenz und die damit einhergehende Lockerung der Engführung
von Politik und Moral, welche Nietzsche den Blick frei macht, Theorie
und Praxis radikal nach ihrer Wirksamkeit
zu befragen – danach, was ein
Wissen, ein Diskurs, ein Denken eigentlich tut,
mit einem selbst und mit einem
umgebenden Milieu.
Die einer solchen ätiologischen Betrachtung
entspringende Praxis, welche hier unter dem Titel einer „Neuen
Vorsicht“ vorgeschlagen wird, ist eine Haltung der radikalen
Abschottung: „Gehen wir bei Seite!
Sehen wir weg!“ Ist man dem
politischen Aktivismus verschrieben, muss diese Empfehlung zutiefst
provozieren. Denn auf den ersten Blick scheint sie ein Programm des
stillschweigend konformistischen Eskapismus zu beschreiben, das
mitnichten auf „alles Kommende“ einwirkt. Doch gerade aus einer
politischen Perspektive wollen wir die Nietzsches Neue Vorsicht
aktualisieren, um einen ökologisch informierten, affektökonomisch
klugen und postmoralischen Begriff von Subjektivität
herauszuschälen.
Ein Blick auf den Ecce
homo erlaubt es, den Begriff zu
differenzieren und einzubetten. In diesem Werk holt Nietzsche das
Denken nämlich in vitalistischer Manier auf den Boden der
klimatischen Bedingungen, der geographischen Verortung und der
Funktionen des Stoffwechsels. Der oben beschriebene Ethos einer
bewussten Abtrennung taucht hier wieder auf, als reichhaltiges
Konzept einer situierten Haltung – und das heißt zugleich als
Geschmack und Selbstverteidigungsinstinkt:
"In
Alledem — in der Wahl von Nahrung, von Ort und Klima, von Erholung
— gebietet ein Instinkt der Selbsterhaltung, der sich als Instinkt
der Selbstvertheidigung am unzweideutigsten ausspricht. Vieles nicht
sehen, nicht hören, nicht an sich herankommen lassen — erste
Klugheit, erster Beweis dafür, dass man kein Zufall, sondern eine
Necessität ist. Das gangbare Wort für diesen
Selbstvertheidigungs-Instinkt ist Geschmack. Sein Imperativ befiehlt
nicht nur Nein zu sagen, wo das Ja eine „Selbstlosigkeit“ sein
würde, sondern auch so wenig als möglich Nein zu sagen. Sich
trennen, sich abscheiden von dem, wo immer und immer wieder das Nein
nöthig werden würde. Die Vernunft darin ist, dass
Defensiv-Ausgaben, selbst noch so kleine, zur Regel, zur Gewohnheit
werdend, eine ausserordentliche und vollkommen überflüssige
Verarmung bedingen. Unsre grossen Ausgaben sind die häufigsten
kleinen. Das Abwehren, das Nicht- heran-kommen-lassen ist eine
Ausgabe — man täusche sich hierüber nicht —, eine zu negativen
Zwecken verschwendete Kraft. Man kann, bloss in der beständigen Noth
der Abwehr, schwach genug werden, um sich nicht mehr wehren zu
können.“
In diesem Zitat wird deutlich, dass Nietzsche
die Neue Vorsicht auf Überlegungen affektökonomischer wie
klimatisch-ökologischer Art gründet. Der immer drohende Burnout
einer neinsagenden („kritischen“)
Haltung – den man vielerorts als Hang zur Aufreibung innerhalb der
politischen Aktion beobachten kann – rührt daher, dass jede
Handlung, jede Äußerung „dagegen“ eine Ausgabe von Kräften
ist: Nicht nur „verdunkelt“ Kritik, sie „kostet“ auch. Daher
gilt es Nietzsche, sich selbst in optimalen klimatischen und
geographischen Bedingungen zu situieren, um die eigene Lebenskraft zu
erhalten und zu steigern. Vordergründig geht es dabei um die volle
Entfaltung individueller Ressourcen in einer Umwelt, die keine
„Stacheln“ und kein Neinsagen erfordert. Doch die ästhetische –
d.h. sinnlich erspürte – Selektion einer Umgebung muss sich die
Frage nach einem Austausch stellen und führt damit auf einen
größeren Immanenzzusammenhang: Wie man wirken kann, hängt von
einem Stoffwechsel, einem Affizierungsgeschehen zwischen Individuen
und Umgebung ab. Und so führt die Selbstgestaltung zur Ökologie:
die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen
und ihrer Umwelt - und Lehre vom „Haushalt der
Natur“.
Wie
nun nutzt Nietzsche seine Sensibilität für Stoffwechselprobleme?
„-
Gesetzt, ich trete aus meinem Haus heraus und fände, statt des
stillen und aristokratischen Turin, die deutsche Kleinstadt: mein
Instinkt würde sich zu sperren haben, um Alles das zurückzudrängen,
was aus dieser plattgedrückten und feigen Welt auf ihn eindringt.
Oder ich fände die deutsche Grossstadt, dies gebaute Laster, wo
nichts wächst, wo jedwedes Ding, Gutes und Schlimmes, eingeschleppt
ist. Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? — Aber Stacheln zu
haben ist eine Vergeudung, ein doppelter Luxus sogar, wenn es
freisteht, keine Stacheln zu haben, sondern offne Hände…"
Sich als ständig vom Untergang bedrohte
Minorität stilisierend wählt der Denker das vornehme Turin als
Präferenzmilieu. Und outet sich als einer der ersten Denker der
Blase.
Blasenwelten
Die Blase – als Inbegriff des geschlossenen,
nährenden Milieus - hat zur Zeit eine immense Faszinationskraft und
ist ein case in point der
Verquickung von ökologischen und politischen Phänomenen. Im dicht
besiedelten 21ten Jahrhundert kennen wir sie nur allzu gut, Peter
Sloterdijk hat eine ganze Philosophie auf ihr aufgebaut. Vom
Mutterleib an leben wir in der sphärischen Umhüllung, die
allerwenigsten schaffen es, diese erste Blase zu verlassen - und
wenn, dann nur um in die nächste überzuwechseln: Stadtblasen,
Kulturblasen, Intellektuellenblasen, Verschwörungsblasen,
Filterblasen... Innerhalb des Sozialen nimmt die Blase eine
ambivalente Doppelfunktion ein: Einerseits kann sie als Schutzraum
auftreten, der durch eine gewisse Verschließung das Aufkeimen und
Gedeihen alternativer Lebensstile und politischer Subkulturen
ermöglicht.
Andererseits sind Blasen auch Orte, wo
harmonische Einigkeit und Übereinstimmung herrscht, die häufig kaum
über die Grenze der eigenen Bubble hinausreicht. Hier werden Inhalte
und Praktiken kultiviert, die sich im Inneren verstärken und
einschwingen, ohne jedoch den Austausch mit einem „anderen“ Außen
zu suchen. (Als bestes Beispiel kann man die demonstrativ und doch
apathische Verstörung anführen, welche urbane Kulturbürger_innen,
Progressive und Privilegierte einem kulturellen backlash
entgegenbringen – diese Blasen
fungieren nach Innen hin stabilisierend, nach Außen erwirken sie
allerdings eine Verhärtung und Polarisierung.)
Mit
der Markierung dieser Ambivalenz sind wir wieder bei der schon zu
Anfang skizzierten Spannung einer Neuen Vorsicht angelangt, die
zwischen einer effizienten Strategie des Entzugs und einer zynischen
Kokonisierung zu oszillieren scheint. Es ergeben sich drei
Schwerpunkte für unser Projekt:
Erstens
geht es uns um die Neue Vorsicht als
Haltung, die im Rahmen einer Politik der Wirksamkeit ein
Handlungsrepertoire von kluger Abtrennung bis affektökonomisch
kalkulierter Einmischung einzusetzen weiß. Um die Motivationen und
Triebfedern dieser Ethik zu verorten, befragen wir Nietzsches Werk
und Biographie ausgehend vom brillanten Denkportrait Nietzsches aus
der Feder seiner engen Freundin und Verehrten Lou Andreas-Salomé.
Außerdem setzen wir diese in Beziehung zu anderen Denkern der
„Vorsicht“ wie Guy de Maupassant oder Julien Offray de la
Mettrie.
Einen
Seitenblick werfen wir auf Urgesteine des „chinesischen Denkens“
wie Laotse oder Konfuzius, da diesen ein strukturell durchaus
ähnliches Heraushalten als Zentrum ihres gesamten ethisch
motivierten Philosophieren gilt.
Im interkulturellen Abgleich unter Berücksichtigung der
sozio-kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Kulturräume wollen wir
Erkenntnisse über die Bedingungen der Emergenz einer solchen Haltung
gewinnen.
Zweitens möchten
wir die im ersten Schritt skizzierte Individualethik auf dem Feld
einer ökologischen Vernunft ansiedeln.
Hierunter verstehen wir ein Denken in
ganzheitlichen Prozessen und Umweltzusammenhängen – in Abgrenzung
zu einem primitiven Ökologiebegriff, der von einer Glorifizierung
und einem Zurück zur „Natur“ lebt. Nietzsches klimatische,
physiologische und energetische Überlegungen werden durch Lektüren
neuerer ökologischer Denker*innen wie Isabelle Stengers und Ilya
Prigogine, Josef Reichholf, Alf Hornborg zu einem dynamischen
Ökologiebegriff geführt, der Ungleichgewichtssysteme und
Metastabilitäten ins Auge fasst.
Die Auseinandersetzung mit einer ökologischen Vernunft steht dabei
in einem engen Zusammenhang zu feministischen Beiträgen, welche die
Verquickung und Engführung des Weiblichen mit dem Natürlichen
kritisch untersucht und dekonstruiert haben, wie beispielsweise die
von Carol Merchant oder Klaus Theweleit. Ökologisch zu denken heißt
so bisweilen, als weiblich unterdrückte Phänomenbereiche neu ans
Licht zu bringen (Vulva!), und geht mit einer Reflexion von
Geschlechterverhältnissen einher. Der auf ersten Blick typische
Mannsphilosoph Nietzsche kann sich so auf den zweiten Blick als
weiblich-weibischer Denker outen.
Für eine Ethik des Lebens im Anthropozän
scheint eine solche Ästhetik der Gestaltung von und Einhegung in
atmosphärische und immersive Machträume sowie
ökologischen Nischen unausweichlich.
Ausgehend von der von Latour aufgestellten These, dass uns in diesem
Zeitalter des Hereinbrechens ökologischer Katastrophen mehr und mehr
die geteilte Welt abhanden gekommen ist, wollen wir diesen Zustand
als (vorerst) irreversibel anerkennen und für ihn progressive
ethico-politische Lösungen und Strategien erarbeiten. Entgegen einer
in progressiven wie konservativen Lagern verbreiteten Tendenz auf
diesen Realtitätsverlust mit dem Beharren auf das Wiedererlangen
einer universal geteilten Welt zu reagieren, wollen wir als
produktiveres
Gegenangebot eine Ethik des Blasendaseins entwickeln, welche
politische wie andere Handlungen stets innerhalb ihrer ökologischen
Situiertheit begreifen will.
Drittens
soll die Blase als soziopolitisches
Phänomen mit spezifischen medialen Ermöglichungsstrukturen im
Zentrum stehen und einen konkreten Testfall für den erarbeiteten
begrifflichen Rahmen abgeben. Das Ziel ist es, dieses
sozialstrukturelle Gebilde analytisch zu greifen und Strategien des
Umgangs mit ihm zu entwerfen, die ganz konkret fragen, wie sich
Sozialitäten der Blase zwischen verschlossener Echokammer und
ermöglichendem Schutzraum gestalten lassen. Das gegenwärtig
virulente Motto „Raus aus der Blase“ verfolgen wir in seine
psychologischen und metaphysischen Prämissen und fragen, wie wir
nach dem Tod einer geteilten Welt dem Schwindel einer umfassenden
Entfremdung begegnen, ohne auf den Backlash-Trick neuer monumentaler
Transzendenzen hereinzufallen. Perspektivismus und progressive
Zukunftsvektoren, die Einzelsegmente der Gesellschaft verbinden
können –
wie geht das zusammen?
Das sich hieraus ergebende Lob der Narration rührt
aus der Erkenntnis, dass
eine Realtität ohne Zukunftsvektor (no future) nie den vollen
sinnlichen feel
einer Realität haben kann. Dadurch wollen wir neue Perspektiven auf
viel (aber oft engstirnig) diskutierte Probleme wie "Post-Truth",
Filterblasen und alternative Fakten anbieten. Bleiben wir der
Wahrheit treu! Aber versuchen wir sie nicht in einem großen Rückfall
in den Platonismus (nach Nietzsche) zu zementieren…
Denn vielleicht gibt es sie auch nur –
im Blaseninneren?
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